„Erinner dich – und du wirst sehen: das alles hat dich zu dem gemacht, was du heute bist. Und ich weiß: jeder neue Augenblick, jeder neue Traum wird dich verändern. Alles, was du dafür tun musst, ist leben. Jetzt. Hier. Fang dir deine Träume, Staubkind.“ –Intro 2014
Mit diesen erhebenden Worten, gesprochen von Synchronsprecher Christian Schult, beginnt das neue Werk der Synthrock-Formation der Berliner Truppe um Terminal Choice-Gitarrist Louis Manke. Staubkind stellten bereits Ende Juli ihr neues Werk „Alles was ich bin“ vor – mit Verzug, aber keineswegs ohne Aktualität haben wir nochmal reingehört.
In ihrem zehnten Jahr also liefert die Band ihr viertes Studioalbum ab – das Erfolgsrezept des selbstbetitelten Vorgängers von 2012 wird auch hier konsequent weitergeführt und der eingeschlagene Kurs katapultierte die Band bis auf Platz 37 der deutschen Charts.
Staubkind – das ist bereits in der Szene ein Synonym für Authentizität und echte Gefühle in der Rockmusik geworden. Mit dem neuen Album schlägt die Band einen ähnlichen, nicht aber denselben Pfad ein. Wer der Truppe jetzt fehlende Kreativität vorwerfen will, dem sei gesagt: warum sich neu erfinden, wenn noch längst nicht alles gesagt und die Puste noch nicht ausgegangen ist, oder die Lieder keinesfalls an Eingang und Tiefgang einbüßen? Im Gegenteil. Hier wird nahtlos angeschlossen an das prämierte Werk „Staubkind“ und die Geschichten, die Mastermind Manke präsentiert. Seine Lyrik und seine Kompositionen sind mitnichten nach vier Alben abgedroschen geworden, sondern bestechen durch Melodien und Emotionen, die wie ausgestreckte Hände wirken, die man nur greifen muss, um mitgezogen zu werden. Und so entführen die Texte von Staubkind uns in aufbauende, stärkende Welten, werden aber teils auch in tiefe Trauer gestürzt.
Deutlich wird, dass die Lieder ein Unverständnis für diese Welt ausstrahlen – warum gehen Menschen auseinander, warum geschehen die Dinge so, wie sie es tun? Im bereits live von den Anhängern der Band gefeierten „Warum?“ geht es genau um diese Fragen. Stücke wie das eröffnende „Den Träumen so nah“ oder „Bis ans Ende der Welt“ kommen wie ein Fluchtversuch aus dieser uns oftmals so unbegreiflichen Realität daher. Gefolgt von dem wieder sehr bodenständigen „Es muss weitergeh’n“, in dem gemäß des Titels wieder Wut und Enttäuschung heruntergeschluckt werden, um seinen eigenen Weg zu gehen. Keine Angst vor großen Gefühlen ist das Rezept, ohne dabei in schlagerhaften Kitsch abzudriften. Dafür sorgt auch die musikalische Untermalung.
Böse Zungen siedeln die neueren Staubkind-Lyrics immer wieder gerne im Schlager-Sumpf an und werfen ein Abdriften in den Kommerz vor – tatsächlich könnte man in manchen Momenten das Gedankenexperiment wagen, den einen oder anderen Liedtext in die Hände von Pur & Co. zu geben, aber Mankes markante Stimme und das gesamte Instrumentarium der Band verbieten das Ganze wieder. Stattdessen sollte man sich fragen, warum bei emotionalen Tauchgängen in der Musik immer an Schlager erinnert wird. „Alles was ich bin“ wartet zwar mit mainstreamigen Elementen auf, bleibt aber sowohl gesanglich als auch musikalisch konsequent ausdrucksstark. Keine Spur von weichgekochter Einfachheit. Mit „So still“ und „Vorbei“ haben Manke und sein Gefolge auch weiterhin Urtypisches mit im Gepäck, das sich ganz genau so auf den ersten Alben hätte finden können.
Fazit: „Alles was ich bin“ präsentiert uns dreizehn neue Songs, fünf Akustikaufnahmen älterer Stücke und sogar Neuaufnahmen einzelner Chansons aus erster Stunde – und treffender hätte der Albumtitel kaum sein können: nach rund 80 Minuten der Odyssee durch tiefste Gefühle, die durch Mark und Bein dringen können, ist sicher: „DAS ist Staubkind.“ Eine Erfahrung, eine Reise, ein Versteckspiel von Gefühlen. Staubkind erreichen mit dem vorliegenden Album ihren Zenit, vergessen aber keinesfalls ihre Wurzeln. Ja, der Ton wirkt rockiger mit weniger elektronischen Elementen als früher, aber dennoch werden hier Brücken geschlagen. Die Kombination aus eingängigen und Hit-verdächtigen, treibenden Hymnen und in Melancholie versickerten Balladen gehört zu einem wahren Gothic-Rocker. Ob nun die epochal veredelte Scheibe (vom Unheilig-Produzenten Henning Verlage) mit ihrem Klangantlitz jedem neuen Hörer liegt, muss man sicher selbst entscheiden. Gerne werden immer Vergleiche zur Musik des Grafen gezogen, was auch der gemeinsamen 2012er Tour mit Unheilig zu schulden ist. Und ja, es gibt viele Parallelen. So steht die Befürchtung im Raum, dass Staubkind die Wege der oben genannten Mainstream-Durchstarter beschreiten wird, die die Ehrlichkeit und das Durchdachtsein der Lieder vermissen lassen. Diese Besorgnis wird mit dem vorliegenden Album zunächst einmal zerschlagen. Und wer sich auf die Atmosphäre einlässt, anstatt krampfhaft pseudo-sentimentale Popmusik bei Staubkind entdecken zu wollen, für den wird Staubkinds neues Werk eine wunderbare Erfahrung. Er wird auch eines Besseren belehrt.
Selten war deutschsprachige Musik echter und tiefgehender. Ein Genuss für Fans, eine Empfehlung für jeden mit Herz. Zum 10-jährigen Jubiläum erscheint „Alles was ich bin“ in mehreren Versionen, neben regulärer CD-Fassung auch als limitierte Auflage mit Fotobuch in einer schmucken Fanbox.