Wenige Kunstfiguren der EBM- und Electro-Kultur lösen mehr kontroverse Diskussionen aus als Aranea Peel und ihre Band Grausame Töchter – die einen stoßen laute Skandalschreie aus, die anderen staunen über die tabulose Extravaganz ihrer Live-Shows, manche halten sich die Ohren zu bei der unter die Haut kriechenden Gesangsart. Am 25. November gastierte das Ensemble im Rockpalast der Matrix Bochum für ein schamloses Exklusiv-Konzert, bei dem wir vor Ort waren.

20161125_Bochum_Vagina_Dentata_Schlagwetter_0035Im Support gab es zunächst die etwas müde NDH-Combo Schlagwetter zu hören, die ihr Debüt-Album „Glück auf!“ präsentierten. Den Ruhrgebiets-Kumpeln um Sänger Kevin Spiegel mit ihrem Zechen-Arbeiter-Outfit und ordentlich Kohle im Gesicht ist definitiv die überzeugende Gesangs-Stimme zu Gute zu halten, sowie die Tatsache, dass die Songs mal nicht wie bei so vielen Möchtegern-Industrial-Rammstein-Klonen in einem Gleichklang versickern, sondern durchaus Wiedererkennungs- und Unterhaltungswert besitzen – trotzdem glänzen die Texte nicht gerade mit ausgeklügeltem und fürs Genre erforderlichem Witz und einer Ironie, bleiben zu oft platt und werfen mit Standard-Motiven und –Phrasen um sich. Songs wie „Herzschlag“ oder „Alles oder nichts“ machen schon Spaß, auch wenn sie keinen Literatur-Nobelpreis gewinnen. Problem war an diesem Freitag leider auch miserabel abgemischter Sound, durch den man als Unkundiger und Nicht-Die-Hard-Anhänger kaum etwas von den Lyrics mitbekommen hatte, es sei denn, man stand direkt vor der Stage – und im Rockpalast verteilt man sich ja gerne mal auf die Brüstung oder die Treppe am Abgang. Gerne wann anders, Jungs, aber an dem Abend harrte man auf das Ende eures Sets.

Dynastie, Synth-Roth-Nebenprojekt von Kai Trautmann und dem [:sitd:]-Musiker Thomas Leszcenski, haben sich nach gut einem Jahrzehnt Schaffenspause mit „A Second Dark“ wieder zurückgemeldet. Und ja, im Pressetext hieß es, sie hätten mit der Zeit einen einzigartigen, mystischen und gedankenschweren Musikstil entwickelt, der eigenen Angaben zu Folge irgendwo zwischen Depeche Mode und Wolfsheim umherpendele, aber so richtig herausstechen konnte der Sound irgendwie kaum. „Time To Reflect“ und „Death Hurts“ sind auf alle Fälle keine schlechten Stücke, der synthetisch-melancholische und schwelgerische Sound mit der zarten, doch dunklen Männerstimme konnte aber nur bedingt auf Aranea Peels Auftritt einstimmen. Vielleicht war auch das Problem, dass zu wenige im Saal die Jungs von Dynastie überhaupt kannten, obwohl es die Combo schon länger gibt.

Als die Schwarze Witwe höchst selbst in ordentlich verdunkeltem und eingenebeltem Saal auf die Bühne trat und ihre Mitstreiterinnen folgten, war der Rockpalast aber auf einmal wie ausgewechselt – endlich startete das Programm, für das man ursprünglich angereist war. Während es mit „Lust und Tod“ gleich zu Anfang einen GT-Klassiker zu hören gab, beschenkte Aranea ihre Hörerschaft aber auch mit vielen Stücken ihres 2016 veröffentlichten neuen Albums „Vagina Dentata“, einem medizinisch-psychologischen Begriff, den einst Sigmund Freud prägte und der prädestinierter für einen Titel eines Grausame Töchter-Albums gar nicht sein könnte. So gab es neben der ersten, frivolen BDSM-Hymne „Liebe will Beweise“ auch die skurrilen „Die ganze Welt ist ein Zirkus“ (selbstredend samt Marching-Band-Outfits), „Wie eine Krake“, „Annika ist tot“ oder „Fette Katzen“ zu hören.

Mörderisch, sexuell, garniert von albtraumhaften Bilder: Gleichzeitig wird die treibende, vor Erotik sprühende Musik natürlich von den Burlesque- und Akt-Tanzeinlagen der Models und 20161125_Bochum_Vagina_Dentata_Grausame_To╠êchter_0118Musikerinnen Kasimira Ratke und Kiara Kazumi begleitet, die sich mal einzeln, mal zum Teil, mal komplett entblößen, je nachdem, ob es gerade zur Song-Choreo passt, oder eben nicht. Eine weitere komplett nackte Tänzerin gibt es auch, die Aranea entweder mal erniedrigt und deren Kopf sie in einen Trog drückt, die sie mit einem Messer bedroht oder ihr Fesseln anlegt – das alles verkommt aber zu einer vollkommen normalen Ebene, wo solcherlei Einlagen bei anderen Bands weit komischer und aufsehenerregender wären, da das eben das Konzept und die Wirkung des Gesamtschauspiels der Grausamen Töchter mit sich bringt. Auch die Fans von Aranea und ihrer Band waren ja nicht anders gekleidet. Viel Lack und Leder, viel nackte Haut, viele Fetisch-Outfits – nichts aber, das einen Besucher von richtigen Goth-Clubs erschüttern könnte. Nicht selten wurde die Show auch „interaktiv“: Aranea bestrafte diejenigen in der ersten Reihe, die sich nicht benahmen, und wer wollte, der durfte mit Clownsmaske auf die Bühne und teilhaben an dem Spektakel. Klar, dass bei der intensiven Show auch Klassiker wie „Ich darf das“, „Los, Schlampe, ficken geht immer“ oder „Ficken ist ein schlimmes Wort“ nicht fehlen durften – Letzteres gab es als Zugabe, doch eine weitere wurde Aranea von den Veranstaltern nicht vergönnt, musste doch in Kürze das Diskoprogramm des Abends beginnen und die Bühne abgebaut werden. Schade!

Fazit: Man kann sagen, was man will, aber die Grausamen Töchter bannen, polarisieren und faszinieren – man kommt nicht mehr von Aranea weg, dem Sound, dem Konzept und der Melange aus dem Dreck vergangener Kulturen, politisch-sozialer Satire und der erotischen Schneedecke, die kühl über allem liegt. Man zelebriert Gier, Geilheit und Egomanie, man bricht mit gesellschaftlichen Normen, Nacktheit und Triebe werden als Normalität verkauft, es wird mit Erwartungen, Grenzen und der Gürtellinie jongliert, was das Zeug hält – und darüber hinaus setzt die eigenwillige Sängerin auf ihr eigenes Ding, wenn es darum geht, der Gesellschaft mit dem Vorschlaghammer den individuellen Schwachsinn vorzuhalten. Musikalisch intensiv, herausragend in Performance und Choreographie und keinesfalls nur ein Varieté, bei dem man hinguckt, weil man schockiert, angewidert oder aufgegeilt ist. Wer kommt, um nackte Haut zu sehen, hat das Konzept nicht begriffen. Die lahmen Vorgruppen kehren wir unter den Teppich – man freut sich schon jetzt auf den Januar im Oberhausener Helvete-Club.

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