8 2 Heimataerde059An Tag 2 des Autumn Moon Festivals ging das Programm schon ein klein wenig eher los: Während auf der Main Stage der Rattenfängerhalle Heimataerde mit ihrem Mittelalter-Electro und ihrem neuen Opus „Aerdenbrand“ im Gepäck einheizten und ihr unkonventioneller, bleibender Kinderreim-Ohrwurm „Hick Hack Hackebeil“ sich durch die Gehirne wühlte, fand man in der Sumpfblume mit den Elektronikern Torul und im Papa Hemingway mit Spielbann seinen Start in den Tag. Wer sich im Folgenden nicht zu den reißerischen Auftritten von Crematory, ihren neuen Songs vom Album „Monument“ und den harschen Vocals von Sänger-Kante Felix Stass oder End of Green gesellte (wohl für viele Damen ein Ding der Unmöglichkeit, weil sie unmöglich woanders hinschwärmen konnten, wenn nicht zu den Stuttgarter Dark Rockern um den Kippen-Wegziehenden Frontmann Michelle Darkness), durfte sich in der Sumpfblume bei den Industrial-Wikingern Legend aus Island berauschen lassen (die Method Acting-Künstler Krummi Björgvinsson & Halldór A Björnsson hauten gleichsam die wohl körperlichste und gequälteste Performance des gesamten Festivals heraus) oder zwängte sich in die Papa Hemingway-Legebatterie mit Tropenhaus-Temperaturen, um die Mittelalter-Rocker Ignis Fatuu zu sehen. 12 2 EndOfGreen091Glücklicherweise hatten diese später am Tag noch einen (soundmäßig leider nicht weniger miesen) weiteren Auftritt auf der Mittelalter-Bühne, der dieses Ärgernis wieder herausholen konnte. Man präsentierte Songs vom Albrecht Dürer-Reminiszenz-Album „Meisterstich“ nebst anderen Band-Klassikern wie „Neue Ufer“ oder „Blut geleckt“ und konnte richtig Stimmung machen – eigentlich hätte die Band auch einen Platz auf größerer Bühne verdient.

13 1 LacrimasProfundere393Zweifellos gab es für alle Geschmäcker entsprechendes Angebot – auch Lacrimas Profundere mit ihrer treuen Fanbase und die Österreicher L’Âme Immortelle um Sonja Kraushofer und Thomas Rainer lockten die Massen an. Ein Sammelsurium aus zarten Balladen und härteren Stücken gab es dabei zu hören: Die Tränenvergießer aus Oberbayern mit ihrer aktuellen Platte „Hope is here“ sowie ihren „Ave End“-Klassikern und das Duo mit ihrem Best of „Unsterblich“. Gleichzeitig erfreuten sich EBM- und Wave-Aficionados eher dem „Sumpfenprogramm“ mit She Past Away und den großen Whispers in the Shadow, lauschten den Symphonic-Newcomern Elvellon oder der weltoffenen Kosmopolitin und Liedermacherin Sarah Lesch, welche auf der Medieval Market-Stage so manch einen Vorbeigeher mit ihrer nachdenklichen und ausgeklügelten Musik überzeugen konnte. 14 2 SarahLesch034Beinahe süß, wie sich eine ältere Dame mitten im Konzert an sie und ihren Mitmusiker wandte, ob sie denn eine Platte erwerben könne und die Gute daraufhin abwinken musste, dass sie zunächst das Konzert zu Ende spielen müsste. Für die vollste Hütte sorgten Honey und seine Girls Lady Lila und Fräulein Venus von Welle:Erdball mit ihrer extravaganten Minimal-Electro-Show zwischen „Commodore C=64“, „VW Käfer“ und „Starfighter F-104G“ und der „Tanzmusik für Roboter“.

Auf den Tag verteilt gab es auch auf dem Mittelaltermarkt wieder wunderschönes Programm zu bestaunen: Über die Bands Comes Vagantes, Heidenlärm und MacCabe  & Kanaka, sowie Gauklershows, Kontaktjonglage und bei verdunkeltem Himmel gleich mehrere Feuershows fühlte man sich dort bestens aufgehoben. Auch schön: Der Markt war auch für Nicht-Festival-Besucher geöffnet und war wohl vor allem für das Hamelner Stadtvolk ein angenehmer Besuch, der den Kultur-Clash perfekt und den Besuchern, die bisher keine Berührungen mit der Schwarzen Szene hatten, diese als friedliebende Subculture vertraut machte. Überhaupt waren das Schausteller-Volk, die Markt-Händler und die Budenbesitzer herzensoffene Menschen, die sich gerne für Pläuschchen und Beratung anboten, man durfte viel probieren und fühlte sich stets willkommen.16 1 WelleErdball393

Während es noch zum Eklat kam und sich manche Besucher lautstark darüber beschwerten, dass man NamNamBulu, unter den Electro-Jüngern eine standhafte Größe, auf die Kleinstbühne über dem Pub verfrachtet hatte, ging das eigentlich tolle, facettenreiche Programm des Tages langsam gen Ende zu – nicht aber, ohne noch den Headliner des zweiten Tages auf die Besucherschaft loszulassen. [Und natürlich regten sich viele im Nachhinein darüber auf, dass NamNamBulu diesem ominösen und angepriesenen Höhepunkt weichen mussten] Gegen 23 Uhr 30 wurde es auf der Hauptbühne nämlich dann sehr eigentümlich: Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Nicht wenige Besucher freuten sich auf den spät angekündigten Zuwachs der Main Stage, schließlich rankte sich um diesen ein gewisses Mysterium. Eine Weltpremiere sollte zelebriert werden, nicht umsonst zog das Autumn Moon Festival damit große PR auf sich. Und man kann und darf es den Veranstaltern auch nicht übel nehmen, schließlich entpuppte sich der Geselle, den man für die Prime Time buchte, erst später als Flopp: Die Rede ist von Rick Genest, seinen Fans und Kult-Anhängern besser bekannt als Zombie Boy, seines Zeichens lebendiges Kunstwerk, Körperartist, Model und bis dato auch kein Musiker. 17 1 ZombieBoy157

Den ganzen Nachmittag über konnte man bereits Lokalpresse und Kamera-Teams ausmachen, die vermutlich nicht wegen gewisser autochthoner und Szene-bekannter Bands aufgelaufen waren, sondern einzig und allein wegen ihm. Klar: Da musste es angesichts der Pressemitteilungen geheißen haben: „Wow, der weirde Typ mit den Tattoos am ganzen Leib, der aus dem Fernsehen. Was, in Hameln? Da müssen wir hin!“ Heidi Klum hatte bereits ihre GNT-Mädels mit ihm posieren lassen, Lady Gaga tanzte mit dem Kanadier bereits ihr „Born This Way“, sogar ein Meet and Greet wurde im Vorfeld verlost: Und eigentlich hatte der prä-musikalische Fame um den von Kopf bis Fuß zombifizierten, am Stage-Rand Bier und Jägermeister schlürfenden Burschen alles, was es brauchte, um die Leute heiß zu machen. Das Potenzial war eindeutig da: Ein verschrobener Typ mit geiler Optik, finsterem Antlitz und einer Band aus Musikern, die zum Teil bei Rob Zombie und Marilyn Manson mitwirkten – kein Wunder, dass sich das Orga-Team des Autumn Moon-Fests dachte: „Klasse, den brauchen wir – der lockt Publikum, das wird ganz groß„.

17 1 ZombieBoy287Ein bisschen überspannter Pomp und Extravaganz müsste doch in der Schwarzen Szene gut ankommen? Dass skurrile, nonkonforme Künstler oft Heimat und Zuspruch in diesen musikalischen Landschaften finden – geschenkt. Nur leider: Pustekuchen. Das stimmungsvolle Intro machte noch die Hoffnung, gleich Zeuge von überzeugender Schlagkraft zu werden: ein Horror-Intro, in das unzählige bekannte Zitate und Sequenzen aus Klassikern wie Shining, The Sixth Sense und Night of the Living Dead eingeflochten wurden, dann die ersten Töne, dann die Ernüchterung. Die steife Performance des Zombie Boy, unverständlich gemurmelte Würge-Sounds, in die ab und an mal ein „Show me your boobs“ oder „I’m your boogie man“ untergemischt wurde, merkwürdige, vermutlich ungewollte Pausen ohne Interaktion und ein beständiger Verdacht, der Frontmann in Militärpants und stylischer Roboterbrille samt Basecap performte das zweite oder dritte Mal erst mit seinen Jungs die Songs; all das führte unweigerlich zu schleunigst das Weite suchendem Publikum, binnen drei oder vier Songs leerte sich der Saal sehr rasant, die Fotografen blickten einander ungläubig an, im ersten Moment dachte man „Ist das euer Ernst? Muss das so? Soll das so klingen?“ Selbst die Sound-Techniker zuckten mit den Schultern und pochten darauf, dass das so gewollt wäre. Musikalisch war das Ganze wie erwartet typischer Industrial Rock / Metal mit Horrorpunk-Anleihen – aber man kam nicht umhin, sich auf den Arm genommen zu fühlen. Facebook füllte sich mit entrüsteten Kommentaren, Shitstorm-Fluten und der vagen Vermutung, ob man nicht einer Ente aufgesessen wäre und es sich um einen gekonnten, bescheuerten PR-Gag handelte. Aber nein – die vergehenden Stunden zeugen von einem gescheiterten Projekt, bei dem man den Zombiejungen fast umarmen und ihm den Kopf tätscheln möchte. Wobei – wenn man den Merch von ihm erblickte, vergaß man das Bedauern gleich wieder: Das Logo-T-Shirt zum Preis von 25€ sei verziehen – aber wer zahlte bitteschön 10€ für eine einlaminierte Postkarte, die qualitativ so aussah wie am Heimdrucker selbst in Serie erstellt, geschweige denn 29€ für eine größere Variante selbiger Qualtität? Sorry, das war nix. Und diesen Unmut äußerten nicht wenige Besucher den Kamerateams von RTL Nord und dem NDR, die mit Sicherheit gerne Positives über den Zombie Boy und seine musikalischen Ausflüchte gesendet hätten. Und mal ehrlich, liebe Szene-fremde Presse: Das Event so zu behandeln, als wäre das Autumn Moon kein mehrtägiges Festival diverser Interpreten gewesen, sondern einzig und allein ein großes Zombie Boy-Exklusiv-Happening, ist schon etwas frech. Und dann noch nicht einmal das Festival zu erwähnen, umso mehr.

Fazit: Das Festival-Ende mit Zombie Boy ist natürlich hart gewesen. Diesen in Retrospektive aber dann doch wieder sehr ulkigen Ritt mitgemacht zu haben und darüber berichten und schmunzeln zu können, sollte aber aufmuntern – und vor allem ist eines hierbei wichtig: Man vergesse nicht das wunderschöne Festival, welches mit Sicherheit nicht für den Misserfolg eines Künstlers zu rügen ist. Hoch- und Tiefpunkte gibt es überall – und außerdem kann man aus den gemachten Erfahrungen nur lernen. Summa summarum ist das Autumn Moon Festival als Szene-Konvent und einer der letzten Festival-Termine des Jahres nämlich gut gelungen, attraktiv und toll aufgemacht gewesen, von den unzähligen Bands und Künstlern, die großartige Performances brachten, mal ganz abgesehen. Ja, größere Locations müssten her. Ja, gewisse Organisationsfauxpas gab es – trotzdem avanciert das AM in der Rattenfängercity langsam aber sicher zu einem neuen Geheimtipp, der bald gar nicht mal mehr so geheim sein dürfte und wir freuen uns bereits auf 2017. Denn mal abgesehen davon, dass Hameln nicht unbedingt urbaner Nabel und Knotenpunkt wie manche NRW-Städte ist – „das kleine WGT“ könnte nach und nach dem Amphi Konkurrenz machen, und angesichts der Publikumsreaktionen und nach den Gesprächen mit den Besuchern ist das weniger übertrieben, als man meint.